Isch 'abe gar kein Untertitel...

Märchenhaft

Zwei Themen dominieren meinen Kosmos in den letzten drei, vier Tagen: Das Sterbehilfevideo Roger Kuschs und die Befreiung der hübschen Prinzessin Leia Ingrid Betancourt aus den Händen kolumbianischer Rebellen.

Letztere ist die schöne Geschichte, die als Information in unsere Haushalte geschwemmt wird. Sie zeigt, dass das Gute über das Böse siegt, dass die Schöne befreit wird, in die Arme ihrer Kinder sinkt, schlicht: Dass die Menschlichkeit immer die Oberhand behält und man die Hoffnung auch nach sechs Jahren Geiselhaft nicht sinken lassen darf.

Die Geschichte um Roger Kusch zeigt das Gegenteil. Eine alte Frau fürchtet sich vor der Einweisung in ein Pflegeheim und zieht es vor, aus eigener Kraft zu sterben bevor sie in eine staatliche Verwahranstalt verwiesen wird. Lassen wir Kusch an dieser Stelle außen vor – ich heiße seine Position nicht gut – so zeigt uns diese Geschichte, dass die Menschlichkeit nur ein Märchen ist.

Unsere Alten sperren wir weg, ins altersgerechte Äquivalent zum Kinderheim schieben wir sie ab. Sie fürchten ein einsames Lebensende ohne Freude, ohne Freunde. Schlimmer noch: Sie fürchten uns, ihre eigenen Kinder, die sie quälen, Cent gegen Cent aufrechnen und denen Hüftgelenke missgönnen, die ihr Leben lang für uns gesorgt haben. Sie fürchten die Zustände, denen wir sie aussetzen wollen so sehr, dass einige lieber freiwillig in den Tod gehen. Den letzten Funken Hoffnung hat der alten Frau unsere hochentwickelte Zivilgesellschaft nach 79 Lebensjahren ausgetrieben.

Menschlichkeit finden wir eben nur im Märchen.

5 Kommentare

  1. Roberto J. De Lapuente

    Für diesen Gedankengang muß man Dich beglückwünschen. Indem Du das [url=http://ad-sinistram.blogspot.com/2008/05/und-jetzt.html]“Und jetzt…“, wie es Neil Postmann[/url], überflügelst,zusammebringst was im Schein der schönen Nachrichtenwelt eigentlich nicht zusammengehört, aber doch Nachrichten aus EINER Welt sind, offenbarst Du die Widersprüchlichkeit dieser Gesellschaft.

    Gratulieren muß man Dir auch zu dem Preis, den man Dir gestern verlieh. Und ich muß mich bei Feynsinn bedanken, ohne den ich diesen Blog wohl nicht kennengelernt hätte.

  2. Hokey

    Erstmal Danke für die Blumen.

    Dieses „Und jetzt“ ist eine interessante Beobachtung; so habe ich das noch gar nicht gesehen. Aber es ist wirklich ganz hilfreich, wenn man sich beim Nachrichtenschauen ab und mal fragt, was das Ganze jetzt an Information gebracht hat, sprich: Was diese Nachricht mit meinem Leben zu tun hat? Und wenn man das macht, stellt man leider fest, dass auch bei den „Seriösen“ vieles einfach genauso sinnlos ist, wie die Promi-News der Boulevard-Medien…

  3. Roberto J. De Lapuente

    Tatsächlich vertritt Postman – besser: vertrat – die Ansicht, dass sogenannte „seriöse Medien“, wie z.B. die Nachrichten – im deutschen Kontext wohl die Tagesschau, die seriöser wirkt als die News z.B. bei RTL2 – nicht mehr als Unterhaltung sind. Wie würde sich sonst erklären lassen, so Postman, dass eine Nachrichten-Sendung mit einer eingängigen Musik beginnt und endet, dass der Sprecher gutaussehend und stilvoll gekleidet ist, dass man nach einem Bericht über ein Erdbeben eine scheinbar fröhliche Neuigkeit zu einer Miss-Deutschland-Wahl sendet? Ginge es um die pure Information, um den Inhalt, so wäre dies alles belanglos.

    Oder wie werden sogenannte Talkrunden gestaltet? Man bekommt vorgeschriebene Zeitspannen, soll in einer Minute abhandeln, was man zu sagen gewillt ist und muß daher auf Parolen und Sinnsprüche zurückgreifen. Postman beschreibt, wie in den USA vor der Erfindung des Telegraphen, der die schnelle Information ermöglichte und daher eine Inflation des Informationsgehaltes mit sich brachte, Diskussionsrunden aussahen. Lincoln und Douglas z.B., die sich politische Diskurse leisteten, sprachen insgesamt bis zu sechs Stunden vor aufmerksam zuhörendem Publikum. Die Gesellschaft damals war sich darüber im Klaren, dass dienliche Information seine Zeit dauert, denn Information bezog man damals vornehmlich aus dem geschriebenen Wort. Eine schnelle Info, so wie wir sie heute kennen, gab es nicht. Uns fällt es heute schon schwer, eine Stunde aufmerksam zuzuhören, selbst bei einfachen Dingen wie einen Roman, der uns als Hörbuch vorgetragen wird.

    Thoreau soll seinerzeit gesagt haben, zumindest sinngemäß: „Wir sind nun bemüht Texas mit Maine zu verkabeln, damit der Mann in Texas und der Mann in Maine miteinander sprechen können. Was wir dabei aber nicht bedenken ist: Was haben sich der Mann in Texas und der Mann in Maine eigentlich zu sagen?“ Oder auch: „Nun ziehen wir Kabelstränge durch den Atlantik, damit wir mit der Alten Welt in Kontakt treten können. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die erste Nachricht aus Europa lautete: Prinzessin Adelheid hat Keuchhusten!“ – Was Thoreau damit sagen wollte liegt auf der Hand: Die schnelle Information bewirkt eine Inflation der Information. Weil alles schnell vermittelbar wird, wird eben auch alles zur Information. Aus der Möglichkeit der Kontaktaufnahme wird eine Art Muss-Verständnis dahingehend. In jener Zeit fing man auch an, Mördergeschichten aus fernen Teilen der Welt in jedem Regionalblatt abzudrucken. Die Sensation, ermöglicht dadurch, Ereignisse aus fernen Gegenden schnell als Information zur Hand zu haben, wurde zum Bestandteil des Journalismus. Freilich führt Postman auf, dass auch vorher schon Unterhaltung geboten wurde, wenn man z.B. von einem Volksfest in der Region schrieb. Aber es bezog sich eben immer auf die Region, in der der Leser lebte, war also eine faßbare Information. Nun wurde an der Westküste von Volksfesten an der Ostküste berichtet.

    „Wir amüsieren uns zu Tode“, heißt Postmans Klassiker aus den Achtzigerjahren und ist allemal lesenswert und aktueller denn je. Auch gerade deshalb gefiel mir Dein Artikel, weil er zwei scheinbar differente, sich nicht in Verbindung bringenden Nachrichten widmet und sie verbandelt. Die wahre Information in unserer vermeintlichen Informationsgesellschaft – die sich immer mehr als Gesellschaft der Desinformation entpuppt – besteht wirklich darin, den Konsens des Sichinformierenlassens zu durchbrechen. Nachrichten nicht willenlos in seinen Kopf gelangen zu lassen, sondern sie gezielt zu verwenden und in Relation zu setzen. Genau da beginnt heute Aufklärung… und dieser Artikel nutzt eben zwei Informationen, um den Irrsinn der Gesellschaft kenntlich zu machen.

  4. Hokey

    Zunächst einmal beneide ich Dich um Deine Fähigkeit, quasi nach Belieben lange und wohlgeschriebene Texte verfassen zu können.Du hast ja einen Output…

    Ich kann zwar nicht alle von Dir angeführten Argumente Postmans nachvollziehen, aber die Kernthese gefällt mir, und „Adelheid hat Keuchhusten“ kommt so oft in den Nachrichten, dass ich mich nicht selten frage, welchen Sinn es hat, Nachrichten zu gucken, die mir mitteilen, dass eine halbe Erdkugel weiter Menschen in einer Höhle verschollen oder bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind.

    Das ist eine interessante Stoßrichtung, die Du mir da gerade zeigst – Meta-Nachrichten – die Botschaft hinter der Nachricht. Etwas, auf das es sich zu achten lohnt.

  5. Roberto J. De Lapuente

    Manchen bin ich zu ausführlich oder zu sehr ins Detail gehend. Ich beneide eher jeden, der sich knapp und prägnant auszudrücken weiß.

    Ich werde Dich in meine Blogrolle mitaufzunehmen, weil es Dein Blog wirklich wert ist und man zudem nicht alle Tage einen prämierten Blog in seiner Liste haben kann. Deine Computerbeiträge verstehe ich aber nicht 😉

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