Isch 'abe gar kein Untertitel...

Das ungemachte Europa

Es stellt sich, bezogen auf diesen Kommentar von Boris, mir die Frage, ob es den Menschen bei Anti-Europa-Entscheidungen um mangelnde Transparenz geht, um Politik, oder ob diese Gegenstimmung nicht eher einer diffusen Anti-Europa-Gefühlslage geschuldet ist. Ich denke, dass viele Menschen sich eher an den Nationalstaat denn an Europa gebunden fühlen; es fehlt das Bewusstsein dafür, Europäer zu sein. Wir fühlen uns nicht als Europäer, sondern als Iren, Deutsche, Spanier, etc., die auf dem Kontinent Europa leben. Aber als Gemeinschaft denken wir uns nicht.

Die gemachte Nation
Dabei haben wir einen solchen Prozess, der mehrere kleine Gruppen unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft zu einer einzigen, nominellen Einheit zusammengefügt hat, schon einmal erlebt: In der Epoche der heranwachsenden Nationalstaaten, die – wie das anvisierte Europa – nicht fertig vom Himmel gefallen sind, sondern in langwierigen und schwierigen Prozessen gemacht, kreeiert, erbaut werden mussten.

Eric Hobsbawm hat es einmal ganz plastisch formuliert, als er, frei zitiert, sagte, dass wir uns eher vorstellen könnten, ohne Arme und Beine zu sein als ohne Nationalität. Dabei sind Arme und Beine naturgegeben, Nationalität hingegen ist nichts weiter als eine Vorstellung, eine Definition einer Gruppenzugehörigkeit, die historisch betrachtet nicht einmal besonders alt ist. Und dennoch ist diese Vorstellung äußerst mächtig, wie uns in ziemlich schwacher Form die aktuelle Europameisterschaft vor Augen führt.

Ihre Stärke zeigte diese Vorstellung von Nation darin, dass sie Menschen veranlasste, andere Nationalitäten zu verfolgen, zu jagen, totzuschlagen, zu vergasen, zu bekriegen und auszurotten. Das ist zum Glück vorbei. Heute vergleichen wir Nationen eher im sportlichen Wettkampf (wenn wir die baskischen Terroristen und die IRA – oder sind sie Freiheitskämpfer für ihre Nation? – vergessen), jeder noch so unbedeutende Sport wird mit einer Nationalhymne bei wehender Flagge initiiert, Nationalfeiertage zementieren das nationale Denken, wir schreiben "uns" bestimmte Eigenarten zu, entwickeln Stolz auf unsere Gruppenzugehörigkeit, Geschichte wird in nationalen Kategorien gedacht.

Wir Menschen fühlen uns unserer Nation verbunden, bekommen Weinkrämpfe, wenn die Nationalelf verliert, Fußballdesinteressierte fiebern plötzlich mit, wenn zweiundzwanzig Männerwaden unter dem Etikett "national" auf den Rasen laufen. Goethe lässt alle vor Ehrfurcht schaudern, gilt er doch als großer Dichter und Denker der deutschen Nation, ganz gleich, ob wir ihn verstehen oder er uns aus tiefstem Herzen langweilt.

Dabei wissen wir nicht einmal recht, was eine Nation nun letztlich ausmacht. Ist es die Sprache? Die Kultur? Die Lokalität? Die Rasse? Die gemeinsame Geschichte? Grenzen? Eine gemeinsame Ethnie? Jeder wird diese Frage für sich selbst beantworten, jeder hat eine eigene Vorstellung von seiner "Nation", wenn auch nicht immer die gleiche wie die der anderen Mitglieder dieser Nation, aber im Etikett "deutsch" treffen sie sich alle. Die Nation bietet eine riesige Projektionsfläche für Vorstellungen und Befindlichkeiten aller Art. Der Nazi macht die "Rasse" zu seiner Leitidee, andere die Kultur, die Sprache, ein Gemisch aus vielem wird zusammengebraut und zur Nation verrührt. Eine Vorstellung, eine Idee, eine ganz persönliche Seifenblase, nichts weiter ist die Nation, gleichwohl auch harte Realität mit noch härteren Auswirkungen, wie man in Mügeln oder in Rostock-Lichtenhagen zu berichten weiß.

Gefühlskaltes Europa
"Europa" ist dies alles bislang nicht gelungen. Europa ist keine Projektionsfläche für seine Menschen, es ist ein abstraktes Bürokratiemonster, verfochten von Menschen, die niemand kennt. Keiner musste für Europa sterben, keine Revolution hob es aus der Taufe, kein Hambacher Fest wurde gefeiert, keine Rebellion musste angezettelt werden. Europafeiertage kennen wir nicht, und gekämpft haben wir nur gegeneinander. Kein Blut, kein Schweiß und keine Träne bilden seinen Kitt, nur Gesetze und Verordnungen halten es zusammen. Seine Hymne stammt aus einer Zeit, der es selber nicht angehört, seine Flagge hängt niemand aus dem Fenster. Vielmehr dient es als Schauplatz für nationale Streitigkeiten, sein großer Gegner ist die Nation, die es überwinden muss, wenn es sich jemals etablieren will. Es reicht nicht aus, im Schulbuch Karl den Großen Europäer zu verkaufen.

Solange die Menschen kein Europagefühl entwickeln, werden alle Referenden und Versuche für Verfassungen scheitern. Es geht dabei nicht um Politik und Transparenz, nicht um den Teuro, nicht um Fördertöpfe, Geld, Gold oder Glück: Es geht einzig darum, dass aus dem ungemachten Europa ein gemachtes wird – und zwar in den Köpfen der Menschen.

1 Kommentar

  1. Boris

    Genau. Oder:

    Erst hieß es EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft).

    Dann nannte man es EG (Europäische Gemeinschaft).

    Schließlich machte man EU ( (Europäische Union) daraus.

    Nur ist es über die Jahrzehnte immer mehr und immer deutlicher eine reine EWG geblieben bzw. geworden.

    Was daran sollte uns Bürgern Europa als gemeinschaftliche Idee näher gebracht haben? Dass wir alle im selben Boot vorgeblicher wirtschaftlicher Notwendigkeiten sitzen, hinter denen alles andere zurückzustehen hat?

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