Isch 'abe gar kein Untertitel...

Eine Kultur des Vergessens

Bei FAZ-net findet sich ein netter Artikel über die Kultur des Rauchens. Gut geschrieben, aber sachlich voll in die Pampe, auch wenn Mario Sixtus(via) das anders sieht. Vergisst, neben Sex, Sophistication und Bohéme leider auch neue Krankheiten, Raucherhusten, Raucherbeine, geteerte Lungen, Gestank. Vergisst bei aller Lobhudelei der kulturellen Höhenflüge der Zigarette, dass das Rauchen in den feinen Rauchersalons eine allein männliche Angelegenheit war und für Frauen unschicklich. Rauchen als Distinktionsmerkmal. Freiheit? Kannste vergessen.

Eine Kultur der Tabakkrümel
Heute dominieren jedoch nicht mehr die vermeintlich ehrwürdigen Rauchersalons, sondern die dreckigen Automaten – Pissoirs für junge Hunde –  Steckies und Selberdrehen am Küchentisch. Von feiner Gesellschaft keine Spur. Ausgelatschte Zigarettenkippen säumen den Weg der Fußgänger durch die Städte – eine Kultur des Mülls, nicht der Freiheit. Nicht mündige Männer rauchen heute, um l'art pour l'art Genüge zu leisten: minderjährige Kinder verkriechen sich zum Quartzen auf die Schultoilette. Rauchen als dandyistische Pose kultureller Elite – das vergisst Seidl – ist lediglich ein verrauchtes Konstrukt.

Eine Kultur der Träumerei
Der FAZ-Autor, der Rauchen als wohlbringende Parenthese in der Wirklichkeit und als Zeichen der Freiheit verklärt; die Zigarette zum erotischen Accessoire stilisiert, vergisst. Er vergisst vergilbte Raucherfinger, stinkende Küsse aus verrauchtem Maul, nach kaltem Qualm miefende Textilien, hässliche Ablagerungen an den Zähnen, abstoßenden Raucherhusten. Und natürlich bezieht er sich auf den Film; die Realität darf bei einer Apologetik des Rauchens keine Rolle spielen, denn dann würde sie sich selbst entlarven müssen als Kultur der vergilbten Schlafzimmertapete, Kultur der Brandlöcher und der fein auf dem Boden verteilten Asche.

Eine Kultur der Belästigung
Die so verspotteten Nichtraucherrestaurants, Nichtrauchertaxis und Nichtraucherbüros sind Ergebnis einer permanenten Kultur der Belästigung. Auch das vergisst Seidl. Wer als Nichtraucher einige Zeit in einem verqualmten Zugabteil verbringen, nikotinumschwebten Apfelkuchen essen oder im sauerstoffarmen Büro denken musste, kann davon ein Liedchen singen. Immerhin bleibt der Autor konsequent und führt die in unserer Gesellschaft so lange etablierte Rücksichtslosigkeit der Raucher in seinem Text weiter.

Doch auch Rauchern selbst ist das Rauchen lästig, was Seidl ebenfalls dem Vergessen anheimfallen lässt. Ein Laster, das zu Nervosität führt, zu Entzugserscheinungen, zu Krankheiten. Rauchen, eine Sucht. Nicht umsonst florieren Entwöhnungsliteratur, Nikotinpflästerchen, Medikamente, Nichtraucherkurse, Selbsthilfe-CDs, Hypnose, Akupunktur – die Liste lässt sich nahezu unendlich fortsetzen. Wo ist die ach so gepriesene Freiheit der Raucher? Apologetisierende Raucher wie Seidl preisen das Rauchen als Symbol der Freiheit und vergessen in gekränkter Eitelkeit, dass die Freiheit der Belästigung keine Freiheit, sondern eine unverschämte Freiheitsbeschränkung der anderen ist.

Es gibt kein "Nichtrauchen", wie Claudius Seidl in verrauchter Hybris verkennt, nur das (wirklich freie) Atmen. Rauchen ist lediglich eine müffelnde Kultur des chronischen Halskratzens. Wenigstens das räumt der FAZ-Autor ein:

Und natürlich muß hier kurz erwähnt werden, daß die Ästhetik des Rauchens das eine ist, und das andere sind der Streß, die Hektik, die Anspannung, welche ganz schnell den Genußraucher in einen armen Trottel verwandeln, der sich, ganz ohne daß sich im Rauch der Vorschein eines besseren Lebens offenbarte, eine nach der anderen ins Gesicht steckt, und am Abend schmeckt der eigene Mund wie das Taschentuch eines Klempners.

Nichtraucherschutz missversteht Seidl als Entmündigung Erwachsener. Er vergisst, wie viele Raucher es in übertriebener  Empörung so gerne tun, die Kinder. Vielleicht täten Raucher gut daran, sich bisweilen ihrer eigenen Raucherbiografie zu erinnern. Aber auch hier dominiert: Vergessen. 

Rauchen – eine Kultur des egomanischen Vergessens? 

2 Kommentare

  1. kiesow

    schön geschrieben.

    wer den nichtraucherschutz als entmündigung erwachsener versteht, der begreift nicht, das raucher immer und immer wieder den nichtraucher entmündigt, indem er dessen gesundheit ohne nachfragen gefährdet und beeinträchtigt.
    aber sowas wollen raucher nicht hören.

  2. Hokeys Blog

    Ja, ich muss zugeben: ich war geschockt. Während auf dem grünen Rasen zweiundzwanzig Sportler ihren Lungen das Letzte abverlangten, stand der Obersportler Jogi Löw hinter seiner Plexiglasscheibe und steckte sich eine Zigarette in den Mund. “Der

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